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News / Bilder als Zumutung
Andreas Möller ©Verena Müller
15.10.2023   Kommentar
Bilder als Zumutung
Der Terrorangriff auf Israel geht wie der Krieg in der Ukraine einher mit einer Flut oft grausamer Aufnahmen. Die Grenzen des Erträglichen sind individuell verschieden. Und doch ermöglichen eindringliche Bilder die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit, sagt Andreas Möller.
Kommunikation lebt von visuellen Eindrücken. Doch was machen Fotos von Anschlägen, Kriegen, dem Leiden anderer mit uns?
 
Die mittlerweile verstorbene amerikanische Soziologin Susan Sontag ging dieser Frage in einem ähnlich lautenden Büchlein nach, das sie provokant „Das Leiden anderer betrachten“ betitelte. Kernthese des vor zwanzig Jahren erschienenen Essays war, dass die immer größere Anzahl von Fotografien den Betrachter irgendwann nicht abstumpfe, wie sie selbst noch in einer früheren Arbeit „Über Fotografie“ (1977) postuliert hatte, sondern ein „positiv gewendetes Schockpotenzial“ besäße.
 
Positiv gewendetes Schockpotenzial? Wer in den ersten Tagen nach dem Überfall auf Israel Plattformen wie X durchsuchte, muss an solchen wissenschaftlich-distanziert daherkommenden Aussagen Zweifel hegen. Die Bilder Entführter oder Getöteter waren so unsagbar, dass sie weder eine Abstumpfung noch eine Wendung zum Guten ausgelöst haben dürften, sondern schlicht unendlich traurig und hoffnungslos stimmten, nicht selten sogar Angst machten. So wie die gesamte Weltlage derzeit.
 
Es ist wahr: Bilder sind immer auch Instrumente medialer Auseinandersetzungen um Wahrheit und Aufmerksamkeit. Der ukrainische Präsident Selenski tauschte den Anzug gegen ein Militärshirt ein und führte die internationale Presse an Massengräber, um Gräueltaten gegenüber der Weltöffentlichkeit zu dokumentieren. Damit sicherte er Fakten zur Beurteilung des Krieges und seiner Verbrechen – auch wenn die Mittel für den externen Betrachter oft schwer zu ertragen waren.
 
In ähnlicher Weise berichten Sprecher des israelischen Militärs gegenwärtig von den Orten unvorstellbarer Verbrechen im Süden des Landes. Am Sonntag nach dem Anschlag, dem Tag der Landtagswahlen in Bayern und Hessen, war immer wieder das Bild einer jungen Frau zu sehen, die von einem laut skandierenden Entführer brutal an den Haaren aus dem Kofferraum eines Autos gezerrt wurde. Es ging durch Mark und Bein. Niemanden, der Mitgefühl besitzt, können solche Szenen unberührt lassen. Im Gegenteil: Sie verfolgen einen noch lange.
 
Ambivalenz dürfte hier wie in anderen Beispielen somit das vorherrschende Gefühl bei den meisten externen Betrachtern sein: Die rationale Gewissheit der Richtigkeit, sich damit zu befassen einerseits, aber auch der Wunsch des Respektierens eigener emotionaler Grenzen andererseits.
 
Fürwahr sind die Grenzen dessen, was man sich auch als Kommunikator ansehen sollte, um den eigentlichen Zweck solcher Bilder – Informationen über den Sachverhalt zu erhalten – erfüllt zu sehen, individuell verschieden. Möglicherweise bedarf es gar keiner Bilder, mag man einwenden, um ein Thema einzuordnen. Weder Fotografien, um die es bei Susan Sontag 2003 ging, noch Bewegtbilder mit Ton als deren Steigerung, sondern lediglich: geschriebene oder gehörte Worte.
 
Und doch gehört zur Wahrheit, dass die Ukraine ihre Erfolge maßgeblich der Fähigkeit verdankt, die eigene ausweglose Lage gegenüber einem mächtigen Gegner der Welt immer wieder in drastischer Weise medial zu offenbaren, nicht nachzulassen, dem Widerstand ein Gesicht auch in Gestalt ihres Präsidenten zu geben. Ähnlich verhält es sich beim Betrachten von Aufnahmen der Familien israelischer Zivilisten, die vom Schicksal ihrer Angehörigen berichten.
 
So betrachtet sind auch permanent wiederholte Videosequenzen kein Voyeurismus am Leiden Dritter, wie Sontags Buchtitel irrtümlicherweise nahelegt, sondern im Idealfall etwas ganz anderes: die unbequeme Ermahnung, nicht zu vergessen, was Menschen einander antun können. Oder wie die Autorin selbst schrieb: „Das Bild sagt: setz dem ein Ende, interveniere, handle.“
 
Ob sich Menschen später anhand der gesehenen Bilder an ein Unrecht erinnern werden, oder nur noch an die Bilder selbst, bleibt offen. Gesichert scheint angesichts der Schnelllebigkeit unserer Aufmerksamkeit jedoch: Wovon es keine Bilder gibt, das hat nie stattgefunden. Schauen wir also hin, zumindest so lange es geht.

Über den Autor
 
Dr. Andreas Möller ist seit 2015 Leiter des Zentralbereichs Unternehmenskommunikation, Politik, Marke von TRUMPF. Im DPRG-Bundesvorstand kümmert er sich um das Thema Politische Kommunikation.
 
Wichtiger Hinweis der DPRG: Der „Kommentar der Woche“ ist eine persönliche Meinungsäußerung der Autorinnen und Autoren, und stellt nicht die Meinung der DPRG dar. Bei Fragen, Anregungen und Wünschen zum Kommentar wenden Sie sich bitte direkt an den Autor unter: andreas.moeller@trumpf.com
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