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News / Der Scoop, der keiner ist
Georg Streiter. Bild: Jesco Denzel
08.09.2023   Kommentar
Der Scoop, der keiner ist
Bitte nicht missverstehen: Ich finde „Freie Wähler“-Chef Hubert Aiwanger ganz schrecklich. Kein Mensch sollte den wählen.
Den Bierzelt-Populisten ein paar Wochen vor der Wahl „abschießen“ – das wäre schon ein Scoop. Aber das muss man auch können. Die „Süddeutsche Zeitung“ hat es mit ihrer Flugblatt-„Enthüllung“ versucht.
 
Die SZ, das wissen wir heute, kann es leider nicht (mehr). Man muss sich schon hundertprozentig sicher sein. Man hat genau einen Schuss, und der muss sitzen.
 
Die Schlagzeile „Aiwanger soll antisemitisches Flugblatt verfasst haben“, ist sofort erkennbar kein Scoop, weil sie das schreckliche Wort „soll“ enthält. Es bedeutet: Wir wissen es nicht, wir vermuten nur, schreiben unser Unwissen aber lang auf. Und tatsächlich: Die SZ konnte es bis heute nicht belegen. Aiwanger „soll“ aber hat nicht.
 
So ging der entscheidende Schuss (knapp) daneben, und die SZ musste mit Schrot nachschießen (Lehrer, Mitschüler, Schreibmaschinen-Gutachten, Toiletten-Kritzeleien). Erfahrene Journalisten wissen: Das führt in den Abgrund.
 
Das ist wie beim Witz: Wenn man ihn erklären muss, ist es kein Witz mehr.
Am Ende ist nicht Aiwanger erledigt, sondern die Glaubwürdigkeit der SZ - ganz zu schweigen von den schweren Beschädigungen der Erinnerungs-, Gedenk- und Debattenkultur.
 
Ein Fall fürs Kommunikations- und Journalisten-Lehrbuch: Vermeintlich gute Absicht kann viel Böses bewirken.
 
Ich will den Teufel nicht an die Wand malen. Aber ich halte es für nicht ausgeschlossen, dass sich die SZ mit diesem Rohrkrepierer für einen Journalistenpreis bewirbt – und ihn auch noch bekommt.
 
Zur Person:
Georg Streiter ist freier Autor. Er arbeitete als Journalist für die Bild-Zeitung, den Kölner Express, die Hamburger Morgenpost, den Stern, der Bild am Sonntag sowie dem Magazin Max. Von 2005 bis 2009 war er Ressortleiter Politik der Bild-Zeitung, wo er für seine Schlagzeile „Wir sind Papst“ bekannt und auch ausgezeichnet wurde. Von 2011 bis 2018 war er stellvertretender Regierungssprecher in der Regierung Merkel.
 
Wichtiger Hinweis der DPRG: Der „Kommentar der Woche“ ist eine persönliche Meinungsäußerung der Autorinnen und Autoren und stellt nicht die Meinung der DPRG dar. Bei Fragen, Anregungen und Wünschen zum Kommentar wenden Sie sich bitte direkt an den Autor unter streiter@web.de
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